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Kritik der Wertphilosophie: 

Die Begründung der Wertphilosophie 2

Inhalt

2.3.   Das „Gemüth“ und die Abwertung der Vernunft

2.4.   Kritik der Unmittelbarkeit

2.5.   „Werthe“  als willkürliche Setzungen

2.6.    Die einzelnen moralischen Werte als ideelle 

           Existenzbedingungen  konservativen Bürger

 

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2.3.  Das „Gemüth“ und die Abwertung der Vernunft

 Die Bedingung der Möglichkeit Ontologie zu betreiben, logisch zu denken und überhaupt  wissenschaftlich zu arbeiten ist die naturale und emotionale Basis abstrakter Erkenntnisse: der Leib, das Gehirn, die individuelle Seele, die Gefühle und das ästhetische Empfinden, ebenso das noch unbewusste oder halb bewusste, unsere Träume, Sehnsüchte und Ahnungen und nicht zuletzt unser Gewissen und der Willen. Zu diesen aufgezählten Aspekten der Seele kommen noch die Vermögen des Verstandes, der Vernunft und Urteilskraft hinzu. „(...) jede Seele ist Das, als was sie sich gibt: in bestimmten Vorstellungen Gefühlen und Strebungen lebende Einheit“ (Metaphysik, S. 486).  Das entscheidende in diesen seelischen Vermögen aber sind nach  Lotze nicht die Vernunft – etwa als Richterstuhl über alle unsere Streitfälle wie bei Kant –, sondern das „Gemüth“. In Rudolf Eislers "Handwörterbuch der Philosophie“ von 1913 wird Gemüt bestimmt als „der Inbegriff von Gefühlsdispositionen eines Menschen, ferner die Fähigkeit, tief und innig zu fühlen. Im Gemüt bekundet sich die innere Anteilnahme der Seele an Ereignissen.“ (S. 240) 

 Lotze dagegen hat einen umfassenderen Begriff vom Gemüt. Es stellt bei ihm eine Erweiterung des Geistes über das Kognitive hinaus dar, obwohl Lotze öfter das „lebendige Gefühl“ gegen Verstand und Vernunft ausspielt; Philosophie ist dann eine Art „Phänomenologie und Kritik des Gemüts“, so dass es zu einer „Weltansicht des Gemüts“ kommt (vgl. Schnädelbach: Philosophie, S. 210). Eine auf dem Gefühl oder dem Gemüt gründende Konzeption von Philosophie leidet aber unter einer Konfusion zwischen tatsächlichem Denken und Fühlen, das individuell und zufällig ist, also immer auch assoziativ und chaotisch abläuft, und objektivierten wissenschaftlichen Resultaten, die notwendig und allgemein gelten müssen. Entweder kommt ein derartiges Philosophieren über ein willkürliches und assoziatives Aufzählen von Bewusstseinsphänomenen nicht hinaus, es wäre bloß unverbindliche Gedankendichtung, oder der Verstand objektiviert aus dem Strom der Gefühle und Gedanken einzelne Elemente und erklärt sie zum Wesentlichen und allgemein Gültigen, dann ist es aber doch wieder der Verstand, der das Primäre bei der philosophischen Begründung z.B. von „Werten“ ist. Lotze objektiviert das, was das „Gemüt“ will mittels des Verstandes, indem er dessen Leistung zugleich abwertet. Er stellt das „lebendige Gefühl“ über den Verstand, kann dieses aber nur in verständlichen Sätzen, also mittels der Kategorien des Verstandes, ausdrücken.

 Dieses diffuse Gemüt wird ihm zur wichtigsten Quelle der Erkenntnis neben der Wahrnehmung und dem Denken, auf denen Wissenschaft fußt. Gegen rationales Denken sagt er: Nachdem das menschliche Herz „einmal den Stolz der unbefangenen und rücksichtslosen Untersuchung gekostet hat, wirft es sich in jenen falschen und so gebrechlichen Heroismus, der dem entsagt zu haben sich rühmt, dem nie entsagt werden darf, und schätzt, in maßlosem Vertrauen auf keineswegs unbestreitbare Voraussetzungen, die Wahrheit seiner neuen Wissenschaft nach dem Grade der Feindseligkeit, mit welchem sie Alles beleidigt, was das lebendige Gemüth außerhalb der Wissenschaft für unantastbar achtet.“ (Mikrokosmos Bd. 1, S. VI (Einleitung))  Selbst jedes neue Resultat der (Natur-)Wissenschaft muss sich vor dem Gemüt rechtfertigen, nicht als Resultat, sondern in seiner Bedeutung für das „Weltbild“ (vgl. a.a.O., S. VIII).

 Das begriffliche Denken galt in der philosophischen Tradition als das Vermögen, Erfahrungen und Erkenntnisse zu objektivieren, damit sie auch für andere einsehbar sind. Nur in der Gestalt von Urteilen und Schlüssen ist Wahrheit für uns gegeben. Der Verstand als Vermögen zu (empirisch vermittelten) Begriffen und zu urteilen schafft die Voraussetzungen für die Vernunft als Vermögen zu Ideen (nicht-empirsch gewonnenen Begriffen) und zu schließen, wie umgekehrt die Vernunft die ordnende Voraussetzung des Verstandes ist. Im begrifflichen Denken galt die Vernunft als höchstes Vermögen, nicht nur wegen der Höhe der Abstraktion, sondern weil sie das „leitende Vermögen“ (Aristoteles) für die anderen Vermögen ist. Ohne Vernunft sind keine allgemein und notwendig geltenden Erkenntnisse möglich, weil die Vernunft die Voraussetzung der systematischen Verbindung der durch den Verstand objektivierten Einzelerkenntnisse ist. Die logisch stimmige Verknüpfung von Einzelerkenntnissen des Verstandes ist das formale Wahrheitskriterium für eine gelungene Theorie.

 In der Ethik ist die Vernunft das Vermögen, Moralgesetze und  Moralprinzipien zu bestimmen, weil nur sie diese allgemein verbindlich begründen kann, so dass sie allgemeine Anerkennung und Einsicht finden können. „Man kann die Kritik der reinen Vernunft als den wahren Gerichtshof für alle Streitigkeiten derselben ansehen; denn sie ist in die letzteren, als welche auf Objekte unmittelbar gehen, nicht mit verwickelt (...) Ohne dieselbe ist die Vernunft gleichsam im Stande der Natur, und kann ihre Behauptungen und Ansprüche nicht anders geltend machen, oder sichern, als durch Krieg.“ (Kr.d.r.V., B779)

 Diesen Krieg beschwört die Lotzesche Philosophie herauf, wenn sie die Rolle der Vernunft, wie sie in der philosophischen Tradition vorherrscht und akzeptiert wurde, auf das „Gefühl“, das immer nur subjektiv gedacht werden kann, gründet. Da jeder empirische Denkvorgang mit Gefühlen verbunden ist, schließt Lotze, sind diese Gefühle der eigentliche Grund der Vernunft. „(...) wir fassen den Begriff der Einheit nicht, ohne zugleich ein Glück der Befriedigung zu genießen, das sein Inhalt einschließt, den des Gegensatzes nicht, ohne zugleich die Unlust der Feindseligkeit mit zu Empfinden (...) Auf diese Allgegenwart der Gefühle beruht ein guter Teil unserer höheren menschlichen Ausbildung; (...) Aber das Gefühl enthält zugleich den Grund jener eigentümlichen und höchsten Tätigkeit, welcher wir in dem Gebiete der Intelligenz begegneten, jener Vernunft nämlich, die von dem Ganzen der Wirklichkeit Formen des Daseins befolgt wissen will, in denen sie allein den Wert des Wirklichen verbürgt findet.“ (Mikrokosmos I, S. 273 f.)  Für Lukács gehört “das Verwischen der Grenzen zwischen Erkenntnistheorie und Psychologie zu den wesentlichen Kennzeichen des modernen Irrationalismus” (Zerstörung, S.106), weil auf Grund des empirischen Denkens, das die Psychologie untersucht,  jederzeit Widersprüchliches behauptet werden kann, so dass sich jede philosophische Position begründen ließe. Lukács kann sich dabei auf Kant stützen: „Nähmen wir die Prinzipien aus der Psychologie, d.h. aus den Beobachtungen über unsern Verstand, so würden wir bloß sehen, wie das Denken vor sich geht und wie es ist unter den mancherlei subjektiven Hindernissen und Bedingungen; dieses würde also zu Erkenntnis bloß zufälliger Gesetze führen.“ (vgl. Logik, S. 435). Wird gar das Gefühl zum Erkenntnisgrund allgemeiner Aussagen, die wissenschaftlich, d.h. notwendig, gelten sollen, dann ist der Willkür Tür und Tor geöffnet, es entsteht keine Wissenschaft, die andere anerkennen können, sondern Irratio oder höherer Blödsinn.

 Da die Einheit der Welt in unserem Bewusstsein prinzipiell nicht vollständig durch die Vernunft konstruierbar ist, die Einzelwissenschaften inzwischen eine solche Fülle von Resultaten angehäuft haben, das ein einzelner diese nicht mehr aufnehmen könnte, wir aber ein Bedürfnis nach einem vollständigen “Weltbild” haben, muss dieses nach Lotze durch das Gefühl ergänzt werden. „An den Rätseln, welche uns die Veränderung der Dinge, die Mannigfaltigkeit ihrer Eigenschaften, die Lebendigkeit und Freiheit aller Entwicklung darbieten, an diesen Schwierigkeiten arbeitet die wissenschaftliche Kraft des Verstandes sich müde, nicht fruchtlos zwar, aber außerstande doch, die Begriffe der lebendigen Freiheit und Tätigkeit so klar zu rechtfertigen, wie die unverwüstliche Zuversicht der Vernunft zu ihrer notwendigen Gültigkeit verlangen würde.“ (Mikrokosmos I, S. 274)  Die „großen Lücken“ nun, die zwischen der wissenschaftlichen Erfahrung und „unserem Glauben“ sich auftun, die soll eine andere Art der Offenbarung schließen. Die verschiedenen Urteile über diese Lücken „haben im wirklichen Leben, in welchem die Evidenz unserer Gedanken noch eine andere und anders verteilt ist, als innerhalb der Schranken der Wissenschaft, niemals die Zuversicht zu trüben vermocht, daß in jenem Gefühl für die Werte der Dinge und ihrer Verhältnisse unsere Vernunft eine ebenso ernst gemeinte Offenbarung besitzt wie sie in den Grundsätzen der verstandesmäßigen Forschung ein unentbehrliches Werkzeug der Erfahrung hat.“ (A.a.O.,S. 275) 

 Der gefühlsmäßige Grund, die “Schranken der Wissenschaft“ zu überwinden, ist ihm die Erfahrung im „wirklichen Leben“. Lotze nimmt hier den Grundgedanken der späteren Lebensphilosophie auf, auch wenn er einschränkend sagt: „Aber zugleich würde uns eine Übersicht jener Urteile lehren, daß keine Quelle der Offenbarung trüber fließt, keine so sehr einer festen Fassung bedarf, als diese, welche ihre Behauptungen über die notwendige Form der Welt nur aus dem Gefühle des Wertes begründen vermag, den sie in ihr zu entdecken, in anderen denkbaren zu vermissen glaubt. Unzählige Umstände können uns hier täuschen (...)“. (A.a.O., S. 275 f.)  Lotzes Philosophie will dem abzuhelfen versuchen, indem sie „aus der Welt der Werte die Welt der Formen zu deuten“ (a.a.O., S. 276) gedenkt. Mit seiner Fundierung der „Werte“ und der Konstruktion des Weltbildes aus dem Gefühl heraus wird Lotzes Philosophie  nicht nur ontologisch, sondern auch in Bezug auf die praktische Philosophie, offen irrational.

 Dass nun Gefühle Werte objektiv begründen können, ist nicht nur die Substanzialität der Seele Voraussetzung. Denn die empirische Erfahrung zeigt, dass die wertbestimmende Lust der Menschen auch von „der Eigentümlichkeit seines Naturells“ (Mikrokosmos II, S. 314) bestimmt wird, das individuell verschieden ist. Lotze löst diese Schwierigkeit, indem er auf den Bildungsstand verweist. Wir könnten nicht leugnen, „daß das Trachten nach Festhaltung und Wiedergewinn der Lust und nach Vermeidung des Wehe die einzigen Triebfedern aller praktischen Regsamkeit sind. Von zwei Bedingungen wird die verschiedene Höhe der Ausbildung abhängen, zu welcher diese gemeinsame Tendenz die verschiedenen Gattungen des Lebendigen führt. Zuerst von der Mannigfaltigkeit der Hilfsmittel, welche die Feinheit der leiblichen und geistigen Organisation dem lustbedürftigen Wesen zur Erreichung seiner Zwecke darbietet; anderseits aber von jener Eigentümlichkeit seines Naturells, durch die ihm bestimmt wird, was ihm als Lust und Unlust gelten soll, und durch die das eine Wesen auf einen einförmigen Kreis des Genusses beschränkt, dem andern eine reiche Auswahl erstrebbarer Güter eröffnet wird, zwischen denen es beginnen kann, größere den geringeren, edlere den gemeineren, heilige den unheiligen gegenüber zu stellen.“ (Mikrokosmos II, S. 314 f.)  Letztlich muss er ein „ideales Gemüth“ annahmen, um etwas Objektivität in seine Lustfundierung zu bringen.

 „Ohne Zweifel ist der Werth desjenigen geringer, was nur einer augenblicklichen und zufälligen Lage oder einer individuellen Eigenheit des Gemüthes entspricht, auf welches sein Eindruck trifft; größer der Werth dessen, was mit den allgemeinen und normalen Zügen der Organisation harmoniert, durch welche der Geist zur Erfüllung seiner Bestimmung befähigt ist; das Höchste mag das sein, was der beständigen Stimmung eines idealen Gemüths wohltun würde, aus dessen inneren Zuständen jede Abirrung von dem Zwecke seiner Entwicklung getilgt wäre. Noch höher hinaus dagegen liegt nichts; und der Gedanke eines irgendwie unbedingt Werthvollen, das seinen Werth nicht durch seine Fähigkeit zur Erzeugung von Lust bewiese, überfliegt sich selbst und das, was er wollte.“ (Mikrokosmos II, S. 316)  Diese Hierarchie des Wertvollen der Lust widerspricht sich selbst. Einmal soll die Lust die Basis für das Wertvolle sein, zugleich wird der Geist zum Maßstab für das Niveau der Lust. Da Lotzes Wertphilosophie unter dem Niveau der Kantischen ist, könnte man einwenden, ist seine Ethik nicht auf dem avancierten Stand des Denkens seiner Zeit und verfällt dadurch seiner eigenen Kritik. Im „Unterschiede menschlicher Sittlichkeit von thierischerm Drange“ ist Lotzes subjektbezogene Wertbegründung noch dem „thierischen Drange“ näher (oder wieder näher) als die Begründung des Moralgesetzes aus der Vernunft.

 Lotze traut seiner subjektfundierten Wertsetzung aus der Lust anscheinend nicht und fundiert seine Werttheorie noch durch eine objektbezogene Begründung aus unserem Verhältnissen zu den Dingen. Der objektbezogene Grund der Werte macht aus der subjektiven auch eine objektive Werttheorie. Der Anklage gegen die Lust begegnet Lotze, diese Art der Wertbestimmung „würde nicht mehr in dem ungünstigen Lichte eines Egoismus erscheinen, der alle Dinge der Welt und ihre eigenthümlichste Natur nur als ein Heizungsmaterial zu seiner eigenen Erwärmung verbraucht; man würde finden, daß die Lust selbst vielmehr das Licht ist, in dem jede objective Vortrefflichkeit und Schönheit des Wirklichen erst wahrhaft zu leuchten beginnt. Und man würde dabei nicht mit Recht den alten Einwurf wiederholen, daß es dem Begriffe der Lust an einem innern Beurtheilungsgrunde fehle, der uns ihre höheren und edleren Formen von den gemeineren unterscheiden, oder irgend eine derselben als die höchste kennen lehre.“ (Mikrokosmos II, S. 322) 

 Eine weitere – allerdings irrationale – Absicherung seiner Werttheorie findet Lotze in der „unmittelbaren Stimme des Gewissens“ (a.a.O., S. 322). Hat die Vernunft immerhin noch einen eigenen kleinen Abschnitt in seinem „Mikrokosmos“, so wird das, was er unter „Gewissen“ versteht nur durch verstreute Bemerkungen angedeutet. So wird z.B. nicht klar, ob das Gewissen zum Gemüt gehört oder ein eigenes Seelenvermögen ist. Das Gewissen ist eine innere unmittelbare Stimme, wir erwarten die Entscheidungen über den Rang der Werte von dem Gewissen, es ist die unmittelbare, nicht rational begründbare Quelle für die moralischen Prinzipien, die dann der Lustbeurteilung unterliegen (siehe unten „Werte“). Zugleich soll aber auch das Gewissen den Maßstab für den Rang der Werte abgeben. „Es ist so, daß die einzelnen Formen der Lust der Art nach verschieden, daß die eine der andern über- oder untergeordnet ist, daß jede, an sich positiv, doch negativ werden kann im Vergleich zu andern, und daß nur die Befriedigung des Gewissens selbst, die Lust also an der Uebereinstimmung jeder einzelnen Lust mit dieser Gesetzgebung über alle, diesem Schwanken ihres Werthes entzogen ist.“ (Mikrokosmos II; S. 323)  Die Lust der Lust als Selbstbewusstsein der Werte ist nur noch absurd, weil nur das Denken, nicht aber Gefühle reflexiv sein können.

  Nun kann man alle individuellen oder gesellschaftlich vorherrschenden Zustände des Seelenlebens möglicherweise beschreiben, wie es z.B. in der Literatur und Kunst geschieht. Aber als Grund für allgemein geltende, objektive Erkenntnisse ist das „Gemüth“ nicht geeignet. Es wäre ohne den wissenschaftlichen Kriterien zu unterstehen, „nichts als ein blindes Spiel der Vorstellungen, d.i. weniger, als ein Traum“, wie Kant sagt (Kr.d.r.V., A 112). Lotze muss seinen akademischen Irrationalismus denn auch einschränken, um nicht zum bloßen Schwärmen aufzufordern. „Man kann im Glauben an die Welt des Gemüthes nicht schwärmen, ohne bei jedem Schritte des wirklichen Lebens die Vortheile der Wissenschaft zu benutzen und ihre Wahrheit stillschweigend dadurch anzuerkennen; man kann ebenso wenig der Wissenschaft leben, ohne Lust und Last des Daseins zu empfinden und sich von einer Weltordnung anderer Art überall umspannt zu fühlen, über welche jene kaum kärgliche Erläuterungen gibt.“ (Mikrokosmos, Bd. 1, Einleitung, S. IX)  Die Resultate der Wissenschaften haben sogar einen positiven Effekt auf die Erkenntnisse des Gemüts, indem sie diese präzisieren. „Die Befriedigung, die unser Gemüth in Lieblingsansichten fand, ist stets, wenn diese dem Fortschritt der Wissenschaft geopfert werden mußte, in anderen neuen Formen wieder möglich geworden.“ (A.a.O., S. XIII)  Sein ideologisches Bedürfnis weiß sich zu helfen. Seine Philosophie bietet sich als „Ersatz“ für zerstörte Mythen an, insbesondere seine Theologie, um die „Zersetzung“ des menschlichen Wesens vorzubeugen.

 Rationale Erkenntnis kann nur zwei Quellen akzeptieren: die sinnliche Wahrnehmung und das begriffliche Denken des Verstandes, der Vernunft und der Urteilskraft. Das „Gemüth“ als Quelle objektiver Erkenntnis befriedigt evtl. die „Weltanschauungsnot“ der affirmativen bürgerlichen Denker wie Lotze, ist aber irrational und damit für andere nicht einsehbar. Wenn sie dieses Bedürfnis nach Sinngebung haben, können sie es bestenfalls glauben. Im Gemüt und im Gewissen hat Lotze die unmittelbaren Erkenntnisquellen für seine Wertauffassung bestimmt.

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 2.4.            Kritik der Unmittelbarkeit

 Lotzes Grundgedanken zur Bestimmung von Werten, letztlich seiner gesamten Philosophie, soweit sie nicht traditionelles Gedankengut bloß wiedergibt oder naturwissenschaftliche Resultate reproduziert, besteht in der Schöpfung seiner Thesen aus seinem Gemüt, der individuellen Unmittelbarkeit, die lediglich eingeschränkt wird durch seine philosophische Bildung. Gegen solche Unmittelbarkeit hatte Kant in seiner Logik eingewandt: „Da nur einzelne Dinge oder Individuen durchgängig bestimmt sind: so kann es auch nur durchgängig bestimmte Erkenntnisse als Anschauungen, nicht aber als Begriffe, geben“. (Logik, Werke 5, S. 530 (§ 15))  Anschauungen, auch die vom eigenen Gemüt, lassen sich beschreiben, aber nicht unmittelbar zum Begriff oder gar Prinzip erheben. Eine solche Konsequenz bedürfte weiterer logischer Vermittlungen, sonst hätte die Behauptung von Werten keine allgemeine Bedeutung, sie wäre bloß eine individuelle Vorliebe und dadurch ethisch irrelevant. Direkt gegen allgemeine Ableitungen aus der individuellen Unmittelbarkeit wendet  sich Hegel:

 „In der Tat, was wir von der Philosophie der neueren Zeit mit der größten Prätention über den Staat haben ausgehen sehen, berechtigte wohl jeden, der Lust hatte mitzusprechen, zu dieser Überzeugung, eben solches von sich aus geradezu machen zu können und damit sich den Beweis, im Besitz der Philosophie zu sein, zu geben. Ohnehin hat die sich so nennende Philosophie es ausdrücklich ausgesprochen, daß das Wahre selbst nicht erkannt werden könne, sondern daß dies das Wahre sei, was jeder über die sittlichen Gegenstände, vornehmlich über Staat, Regierung und Verfassung, sich aus seinem Herzen, Gemüt und Begeisterung aufsteigen lasse. (...) Den Seinen gibt Er’s schlafend, ist auf die Wissenschaft angewendet worden, und damit hat jeder Schlafende sich zu den Seinen gezählt; was er so im Schlafe der Begriffe bekommen, war denn freilich auch Ware danach. (...) Dies ist der Hauptsinn der Seichtigkeit, die Wissenschaft, statt auf die Entwicklung des Gedankens und Begriffs, vielmehr auf die unmittelbare Wahrnehmung und die zufällige Einbildung zu stellen, ebenso die reiche Gliederung des Sittlichen in sich, welche der Staat ist (...) in den Brei des ‚Herzens, der Freundschaft und Begeisterung’ zusammenfließen zu lassen. (...) Mit dem einfachen Hausmittel, auf das Gefühl das zu stellen, was die und zwar mehrtausendjährige Arbeit der Vernunft und ihres Verstandes ist, ist freilich alle die Mühe der von dem denkenden Begriffe geleiteten Vernunfteinsicht und Erkenntnis erspart. Mephistopheles bei Goethe – eine gute Autorität – sagt darüber ungefähr, was ich auch sonst angeführt:

‚Verachte nur Verstand und Wissenschaft

des Menschen allerhöchste Gaben –

so hast dem Teufel dich ergeben

und mußt zugrunde gehen.’“ 

(Rechtsphilosophie, S. 6 f./das Goethezitat entspricht nicht ganz dem Wortlaut der Tragödie)

 Diese Ausführungen Hegels, die sich gegen Fries’ Unmittelbarkeitsphilosophie richten, treffen haargenau auch auf Lotze zu und die folgende bürgerliche Philosophie, die von der unmittelbaren Schöpfung von allgemeinen Prinzipien aus dem Gemüt ausgeht. So die gesamte subjektive Wertphilosophie, aber auch die Lebensphilosophie, die von einem vorrationalen „Leben“ ausgeht, etwa Bergson „élan vital“ oder Diltheys „Weltanschauungsphilosophie“. Dieser Kritik verfallen auch solche Begriffe der Phänomenologie Husserls wie epoché (phänomenologische Reduktion) und nicht zu vergessen Heideggers „fundamental-ontologische Theorie des Verstehens“, wenn er von einer „Vor-struktur des Daseins“ redet. (Vgl. Schnädelbach: Philosophie, S. 168 ff.)  Fast die gesamte bürgerliche Philosophie nach Hegel hat sich in entscheidenden Aspekten ihres Denkens dadurch dem Teufel verschrieben.

 Bei der bloßen Kritik solcher Unmittelbarkeitstheoreme kann aber nicht stehen geblieben werden. Das Unmittelbare, in dem ich es als solches bestimme oder von den Denkern in kritischer Absicht darstelle, ist schon nicht mehr unmittelbar, sondern bereits durch mein Bewusstsein vermittelt. Allgemein lässt sich sagen, dass in dem Moment, in dem Unmittelbares als solches bestimmt wird, es immer schon durch ein Bewusstsein vermittelt ist. Andererseits ist jeder Denkgegenstand, indem ich ihn mir vorstelle oder denke, unmittelbar mein Gegenstand. Hegels sagt deshalb in Bezug auf unser Erkennen, „daß es Nichts gibt, nichts im Himmel oder in der Natur oder im Geiste oder wo es sei, was nicht ebenso die Unmittelbarkeit enthält als die Vermittlung, so daß diese beiden Bestimmungen als ungetrennt und untrennbar und jener Gegensatz sich als ein Nichtiges zeigt.“ (Logik I, Werke Bd. 5, S. 66.)

 Wenn das bürgerliche Denken nach dem Zusammenbruch des Hegelschen Systems diese Einsicht verdrängt (Lotze hat Hegel gelesen!), dann muss der Kritiker dieser Philosophie selbst nach den Vermittlungen des Gemüts fragen. Was Marx in Bezug auf das Gemüt bei Feuerbach sagt, lässt sich teilweise auf Lotze anwenden. „Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf.“ Dagegen windet Lotze aus seinem Wesen erneut das religiöse Wesen heraus.

„Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.

   Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen:

  1. von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren und das religiöse Gemüt für sich zu fixieren, und ein abstrakt – isoliert – menschliches Individuum vorauszusetzen.
  2. Das Wesen kann daher nur als ‚Gattung’, als innere, stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit gefaßt werden.“

Bei Lotze macht sich dieses abstrakte Wesen in seiner Anthropologie bemerkbar, die zwar einen historischen Teil hat, der aber das abstrakt menschliche Wesen nur illustriert.

Wie Feuerbach, so sieht auch Lotze „daher nicht, daß das ‚religiöse Gemüt’ selbst ein gesellschaftliches Produkt ist und daß das abstrakte Individuum, das er analysiert, einer bestimmten Gesellschaftsform angehört.“ (Marx: Feuerbachthesen, MEW 3, S. 6 f.) 

Oder mit Hegel gesprochen hat jedes Jahrhundert seinen eigenen Begriff vom Menschen, so dass für die apriorisch behauptete Natur des Menschen gilt: „das richtende Prinzip für jenes Apriorische ist das Aposteriorische“ (Hegel: Naturrecht, S. 445). Dieser Kritik am abstrakt menschlichen Individuum verfällt nicht nur die Anthropologie Feuerbachs und Lotzes, sondern auch die später in Mode gekommene Fundierung der Philosophie in Anthropologie etwa bei Gehlen oder Plessner. (Vgl. Horkheimer: Anthropologie, S. 2-25)

 Bei Lotze äußert sich das „ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ in ihm, als „abstraktes Individuum“, in der Form des ideologischen Bedürfnisses der Herrschenden seiner Zeit nach Werten.

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2.5.            „Werthe“  als willkürliche Setzungen

 Lotze hat kein zusammenhängendes Werk über konkrete „Werthe“ geschrieben. In seinen Schriften geht er in verschiedenen Kontexten auf die Wert-Problematik ein. Lediglich seine Diktate über Ethik („Grundzüge der praktischen Philosophie“) enthalten eine zusammenhängende Darstellung, die ich zugrunde lege und die ergänzt wird durch andere Stellen aus seinem Werk.

 Lotze geht davon aus, das bisher „kein einheitliches Prinzip der Sittlichkeit gefunden worden, aus welchem die bestimmten einzelnen Pflichten durch eine Reihe von Deduktionen hätten abgeleitet werden können, die nicht von der Erfahrung, sondern eben von der wissenschaftlichen Bearbeitung des Prinzips ausgeführt würde.“ (Ethik, S. 9)  Diesem Vorurteil folgend lehnt er Kants „rigoristische Ansicht“ (A.a.O.,S. 10)  eines einheitsstiftenden Moralgesetzes mit Hegels Argument ab, dass im kategorischen Imperativ sowohl die eine Maxime wie ihr Gegenteil sich verallgemeinern ließe, ohne allerdings die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen bei Kant (also die zweite Gestalt des kategorischen Imperativs) zu würdigen. Zugleich kritisiert Lotze Kants Formalismus mit ähnlichen Argumenten wie später sein Nachfolger in der Werttheorie Scheler. (Vgl. Scheler: Formalismus, S, 6f.)  „Andererseits wird nicht gesagt, welche Maxime sich eigentlich zur allgemeinen Gesetzgebung nicht eignen würde. So lange es ganz gleichgültig ist, was dabei herauskommt, kann in der That jeder sittliche und unsittliche, vernünftige und unvernünftige Grundsatz allgemein durchgeführt werden. Dies ist offenbar Kant’s Meinung nicht; sondern natürlich sollten die befolgten Maximen, wenn sie als allgemeine Gesetze betrachtet würden, zu einem vernünftigen Zustande, zu einem Wohlsein der Menschen, überhaupt zur Herbeiführung eines Gutes dienen, und die Rücksicht auf einen Zweck ist folglich durch diese Formel nicht wirklich beseitigt worden.“ (Lotze: Ethik, S. 10) 

 Auch die Lust kann nicht unmittelbares Ziel der Ethik sein, wie es der Eudämonismus möchte, weil die sinnliche Lust bei den einzelnen Menschen zu verschieden ist, um darauf ein Prinzip zu gründen. Letztlich müssen wir auf unser Gewissen hören. „(...) wir können uns niemals dem unbefangenen Urteil unseres Gewissens entziehen, welches behauptet, daß alles Streben nach Lust zwar natürlich und an sich nicht tadelhaft sei, dagegen auch jedes moralischen Wertes völlig entbehre.“ (A.a.O., S. 9)  Auf jeden Fall, so Lotze, streben die Menschen nach Zwecken, seien es nun Dinge, die sie haben wollen, oder Ideen, die sie verwirklichen wollen. Aber an sich kommt weder den Dingen noch den ideellen Gebilden etwas zu, was unabhängig vom Menschen gut oder schlecht genannt werden kann. „So sind nützlich und schädlich keine Eigenschaften, die den Dingen an sich zukämen; diese sind immer nur was sie sind, und erwerben solche Prädikate erst durch Beziehung auf einen meistenteils ihnen selbst ganz gleichgültigen Zweck. Der Begriff des Guten ist viel vornehmer, verhält sich aber formell gerade so. Es ist gar nicht mehr zu sagen, worin denn der Wert oder die Güte eines Gutes oder eines Guten dann noch bestehen sollte, wenn man sich das so Bezeichnete außer aller Beziehung zu einem Geiste denkt, der daran Freude haben könnte. Nehmen wir an, in der ganzen Welt gäbe es gar niemanden, der überhaupt Lust oder Unlust über irgend etwa empfinden könnte, so müßte man gar nicht, zu welchem Ende in dieser Welt etwas geschehen sollte, und noch weniger, in wiefern eine Handlung besser sein sollte als irgend eine andere, da ja jeder neue Zustand b, der durch eine Handlung erzeugt würde, aller Welt ebenso gleichgültig sein würde, wie der frühere a, den sie verändert hat. – Mit Einem Worte: Es giebt keinen Wert oder Unwert, der an sich einem Dinge zukommen könnte; beide existieren bloß in Gestalt von Lust und Unlust, die ein gefühlsfähiger Geist erfährt.“ (A.a.O., S. 11) Lotze übernimmt hier die nominalistische und antiontologische Ansicht, die z.B. schon Thomas Hobbes ausgesprochen hat und die auch Kants Ethik bestimmt, um zugleich das wertbestimmende Vermögen (Geist, Seele, Gemüt, Gewissen) erneut zu ontologisieren. Nicht Dinge oder Ideen sind also Werte, sondern wir verleihen ihnen dieses Prädikat „wertvoll“ auf Grund unserer Lust und Unlust, die wir damit verbinden. Mit Lust ist aber nicht ihr allgemeiner Begriff gemeint, das wäre nichts als die „egoistische Befriedigung“, sondern eine bestimmte „Lust“. Dadurch unterscheidet sich Lotze etwa vom Utilitarismus Benthams, für den Lust als letzter Begriff der Moral vorwiegend sinnliche Lust (sinnliche Freude bzw. die Summe von Glücksempfindungen) meint. Für Lotze gilt dagegen: „(...) Lust selbst ist nicht allein Wohlsein des genießenden Geistes, sondern zugleich eine Anerkennung der objektiven Schönheit, Vortrefflichkeit oder Güte dessen, was zu ihr Veranlassung giebt.“ (Ethik, S.12) 

 Mit seiner subjektbezogenen Bestimmung von Werten wendet sich Lotze gegen seine Frühschriften, in denen er die unmittelbare Einheit von Sein und Wert behauptet (vgl. Schnädelbach: Philosophie, S. 210), andererseits deutet er in dem letzten Zitat doch wieder eine objektfundierte Wertauffassung an, die später als materiale Werttheorie bezeichnet wurde, deren Hauptrepräsentant Scheler wurde. Die subjektbezogene Güte der Dinge wird anthropologisch zum objektiven Wert. „(...) der genießende Geist läßt sich gleichsam als das Mittel auffassen, durch dessen Mitwirkung der in den Dingen vorbereitete Wert zu der wirklichen Existenz kommt, die er freilich nicht anders als in diesem Augenblicke des wirklichen Genossenwerdens besitzt.“ (A.a.O., S. 12)  Lotze erläutert den Zusammenhang von Ding (ich ergänze: und Ideen) mit der Lust am Beispiel der Farben und der Musik. „Daß er (der Hörer, BG) z.B. in einem Mollaccord eine andere Art der Schönheit findet, als in dem Duraccord, das ist nicht sein Werk; vielmehr, obgleich alle diese Werte nur in seinem Gefühle Wirklichkeit haben, so stehen ihm doch seine eigenen Gefühle als ein System mannigfaltiger Glieder gegenüber, deren jedes seinen besonderen Charakter und seinen besonderen Wert hat, ohne daß der Geist imstande ist, diese Verteilung zu ändern.“ (A.a.O., S. 12)  Dieses Beispiel zeigt schon, dass diese Lust, die den Mollakkord einen anderen Wert zuschreibt als den Durakkord nicht von jedermann beurteilt werden kann, sondern offenbar nur von musikalisch gebildeten Menschen. Dennoch gilt er objektiv oder „wirklich“ (sieh oben „Geltung“). Werte sind also bestimmt durch unser Gefühl, unterliegen aber nicht unserer Willkür, „so daß auf einige ein unmittelbares nicht abzuänderndes Urteil des Wohlgefallens oder der Billigung, auf andere eins des Mißfallens oder der Mißbilligung fällt, und daß endlich auch nach einem gleich unmittelbaren Ausspruch unseres Gefühls bestimmte Gradunterschiede dieser Werte feststehen.“ (A.a.O., S. 12 f.) 

 Die psychologische Tatsache, dass Gefühle ambivalent sind, wie man aus jedem guten Liebesgedicht vom Sturm und Drang bis zur Romantik erkennen kann, wird von Lotze nicht beachtet. Da für ihn das „ideale Gemüth“ eine ontologischer Begriff ist, der als Substanz und unveränderlich gedacht wird, sind auch seine Werturteile für ihn objektiv. Böswillig könnte man sagen, der Edelspießer Hermann Lotze bläht sein eigenes Gemüt, sein Gefühl geistiger Lust und Unlust zur allgemeinen Geltung auf.

 Das Vermögen des Gemüts, das moralische Ideen bestimmt, ist das Gewissen. Nur von ihm können wir Aussprüche erwarten, „welche uns die allgemeinsten sittlichen Grundsätze festsetzen. Es wird auch niemand bezweifeln, daß keine Theorie uns jemals von anderen Verpflichtungen überzeugen wird, denen diese Zustimmung des Gewissens fehlte. Das Geschäft der Spekulation besteht daher hier gar nicht sowohl in der Erfindung dieser höchsten Grundsätze, sondern vielmehr teils in ihrer Anwendung auf die mannigfaltigen Umstände des Lebens, teils in ihrer Verknüpfung mit unserer theoretischen Weltansicht.“ (A.a.O., S. 13)  Begriffe wie „Weltansicht“ oder Weltanschauung“, gar wenn sie noch mit dem Adjektiv „theoretisch“ verbunden sind, deuten schon einen Verfall der Theorie an, denn die Welt ist vielleicht prinzipiell erfassbar, nicht aber als Anschauung oder Bild. Dieser Verfall des rationalen Denkens gilt auch für den Begriff des Gewissens. Dieses ist Resultat unserer Erziehung, es ist noch relativ jung in der Geschichte als eigenes Vermögen identifiziert. Die Antike brauchte noch die veräußerlichte Gestalt der Erinnyen bzw. Furien, um diese Instanz in uns zu erahnen. Ein Begriff vom Gewissen entsteht erst nach dem Mittelalter. Da es auch aus dem Zufall der Erziehung und der Sozialisation entsteht, deshalb mal mehr mal weniger ausgeprägt ist, durch Zeit- und Lebensumstände unterschiedliche Inhalte hat, fordert Kant diese subjektiven Seiten des Gewissens aufzugeben und das Gewissen durchzubilden, so dass es der subjektive Träger der praktischen Vernunft wird. Diese Gestalt des Gewissens scheint Lotze vorzuschweben, wenn anders seine Setzungen Verbindlichkeit haben und objektiv für alle gelten sollen. Da er aber andererseits der praktischen Vernunft bestenfalls die Rolle eines Leitfadens zuerkennt, bleibt sein Grund der Werte irrational. „Keinesfalls aber darf man bloß um der Einheit eines Prinzips willen den unmittelbaren Gehalt dieser Aussprüche (des Gewissens, B.G.) verfälschen. Fände sich ein einziges Prinzip, so würde bloß ein theoretisches Bedürfnis unserer Vernunft etwas mehr befriedigt; die sittliche Grundsätze dagegen würden dadurch an Verbindlichkeit nicht gewinnen.“ (A.a.O., S. 13)  Das unmittelbare Gewissen wird absolut gesetzt, auf die Scheinobjektivität seiner ontologischen Bestimmung gegründet, obwohl es sich, höflich ausgedrückt, um das Gewissen eines bürgerlichen Philosophen handelt, der dem Irrationalismus anhängt.

 Der Zusammenhang zwischen dem Gewissen und den übrigen Gemüt besteht darin, dass das Gewissen moralische Prinzipien bestimmt, denen dann durch das Gefühl der geistigen Lust oder Unlust ein Wert zu- oder abgesprochen wird. Andererseits erscheint das Gewissen schon derart mit dem Gemüt verbunden zu sein, dass das Gewissen von vornherein nur solche Gebote und moralische Ideen hervorbringt, die vor der geistigen Lust des Gemüts bestehen können. „War es eine ursprüngliche Eigentümlichkeit des Geistes, Veränderungen nicht nur zu erfahren, sondern sie vorstellend wahrzunehmen, so ist es ein ebenso ursprünglicher Zug desselben, sie nicht nur vorzustellen, sondern in Lust und Unlust auch des Wertes inne zu werden, den sie für ihn haben. (...) Denn darauf wird doch zuletzt alle Lust beruhen, daß dem Geiste (...) Erregungen zugeführt werden, die mit der Richtung, den Bedingungen oder der Form seiner lebendigen Entfaltung übereinstimmend, ihm (...) eine Förderung seines eigenen Tuns verschaffen.“ (Mikrokosmos I, S. 269 f.)

 Eine Konsequenz der scheinelitären Bestimmung des Wertvollen, des herausragenden Gewissens eines bürgerlichen Intellektuellen ist die Ablehnung der politischen Gleichheit der Menschen. Lotze ist insofern konsequent. Sein Ideal ist die „Aristokratie der Bildung“. „Daß neben aller Staatsverfassung auch in demokratisch angelegten Gemeinwesen sich eine Aristokratie der Bildung oder des Reichtums von selbst einfindet, versteht sich leicht. Und dieses Element ist jedem Staatswesen zu wünschen, nämlich eine Klasse, die vom Ehrgeiz und der Erwerbsucht nicht mehr getrieben zu werden braucht, sondern die Feinheit und Bildung des Lebens zu repräsentieren und dem Staate ihre Dienste freiwillig zu widmen befähigt ist.“ (A.a.O., S. 80)  Die offene Rechtfertigung ökonomischer Herrschaft damit, dass die Herrschenden dann Träger der Kultur sein können, ist schon damals reaktionär selbst in der Klassengesellschaft angesichts des Humboldtschen Modells der Universitäten (vgl. 3.6.), vom Stand der Produktivkräfte, die eine herrschaftsfreie Gesellschaft erlauben, die auch die Kultur fortentwickeln kann, ganz abgesehen.

Zugleich werden wie in Lotzes Ethik die partikularen Interessen der Herrschenden als allgemeine verkauft, in der sich der Ideologe als Vertreter des Allgemeinen aufspielt. Lotze steigert sich sogar zu der Behauptung, die „Obrigkeit“ repräsentiere die „Ansprüche des sittlichen Gewissens“ (Lotze: Ethik, S. 65), auch wenn er in der „Obrigkeit hier zunächst nur diese ideale Macht verstanden“ wissen will, nicht einzelne Individuen. Entsprechend lehnt er jede Form von Demokratie ab. „Demokratie ist niemals in dem Sinn möglich, daß sie allen lebendigen Staatsangehörigen gleiche Rechte gäbe; Frauen und Unmündige sind immer, vollkommen Arme und eingewanderte Fremde meistens ausgeschlossen oder nur unter Bedingungen zugelassen gewesen. Der Demos also, von dem hier die Rede ist, ist stets nur die Summe selbständiger Männer, auch diese selten ohne Abstufungen der Rechte.“ (A.a.O., S.79) Diese Rechtfertigung der bestehenden politischen Herrschaftsverhältnisse korrespondiert mit seiner Auffassung des Gewissens: Das unmittelbare Gewissen ist konservativ. Lotze hypostasiert in der Philosophie die beschränkten und zurückgebliebenen Verhältnisse in Deutschland, indem er sie zugleich idealisiert, zur eigentlichen Wirklichkeit oder zum ontologisch bestimmten Sein macht, wie später Heidegger, der seine Schriften studiert hat, es zumindest zeitweise mit dem Faschismus tut.  

 Die subjektive Willkür bei der Bestimmung der Werte muss sich auch bei der konkreten Bestimmung der moralischen Prinzipien offenbaren, die Lotze gibt.

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2.6.            Die einzelnen moralischen Werte als ideelle Existenzbedingungen  konservativen Bürger

 Auffällig ist im Vergleich mit anderen Tugendkatalogen, dass solch zentrale Bestimmungen wie Tapferkeit, Gerechtigkeit und Besonnenheit fehlen oder nur reduziert vorkommen. Stattdessen herrschen die auf das Individuum im engeren Sinne bezogenen Bestimmungen vor. Die Besonnenheit Platons fehlt, weil Lotze insgesamt das rationale Denken abwertet. Von der Gerechtigkeit ist nur die negative Vergeltung übrig geblieben. Und Tapferkeit als praktische Tugend in der Polis ist nicht die Sache des isolierten und beamteten Hochschullehrers im Kaiserreich, in dem schon sozialdemokratische Anwandlungen ein Kündigungsgrund waren. Lediglich „Wohlwollen“ kommt als gesellschaftliche Tugend vor. Der engen Bindung ans Individuum entspricht seine Ontologisierung des Gemüts und seine statische Vorstellung von der gesellschaftlichen Ordnung.

 Bereits die Auswahl dieser moralischen Prinzipien, die als Werte angesehen werden, zeigt die Willkür seiner absoluten Gewissheit. Die einzige Begründung, die Lotze gibt, sind Formulierungen wie „wir können uns niemals dem unbefangenen Urteil unseres Gewissens entziehen“, „diese Zustimmung des Gewissens“, „daß wir nur von unserem Gewissen die Aussprüche erwarten können“, „unsere Gewissen sagt nun“ usw. Er wählt „zwischen solchen Gefühlen, durch welche im Bewußtsein der Wert oder Unwert der vorgestellten Handlung repräsentiert wird“ (Lotze: Ethik, S.14)  Da ausschließlich die „Wärme des Herzens“ und nicht die rationale Beurteilung entscheidend ist, ist der Grad dieses „Gemütsanteils“ für die Abstufungen der Wichtigkeit von moralischen Grundsätzen oder Tugenden heranzuziehen. „Zuerst wird natürlich die Intensität derselben ihren Wert erhöhen, sowie jede Größe den Wert dessen, was sie mißt. Dann aber wird auch eine Extensität, nämlich eine Allseitigkeit oder Vielseitigkeit der Empfänglichkeit für alle Werte zu verlangen sein, und jede Einseitigkeit, sowohl der ausschließende Fanatismus für das an sich Große, wie die ausschließende Liebhaberei und Genügsamkeit am Unbedeutenden, ist tadelhaft. Das dritte wird die richtige Abmessung des Interesses sein, das wir den verschiedenen Werten zuwenden.“ (A.a.O., S. 15)  Dass man moralische Grundsätze auch rational bestimmen und anschließend sein Gefühl an diesen Grundsätzen schulen kann, akzeptiert Lotze nicht, da er das Gewissen bzw. Gefühl mit dem Gemüt substanzialisiert hat. Zwar gibt es auch nach Lotze keine eingeborenen Ideen (vgl. Mikrokosmos I, S. 255), aber diese Ideen sind in uns angelegt und bedürfen nur der Erweckung durch die Bildung.

  Übersicht der Tugenden und moralischen Ideen bei Lotze

  1.                  Gruppe = Vorbedingungen

a.       Ein „wirkliches Gefühl der Billigung und Missbilligung zum Entscheidungsgrund“ zu machen (Ethik, S. 14)

b.      Werte sollten „verwirklicht“ werden.

 

  2.                  Gruppe = eigentliche sittlichen Tugenden

                        a.       Allgemeine Pietät

b.      Wohlwollen

c.       Dankbarkeit (als positive Vergeltung)

d.      Recht (als negative Vergeltung)

e.       Ordnung

f.        Reinlichkeit

g.       Selbstbeschränkung (in Bezug auf Konkurrenz)

  3.                  Gruppe = formelle Ideale des sittlichen Handelns

a.       Persönlichkeit

b.      Konsequenz des Handelns

c.       Eigentümlichkeit der Person und ihres Wirkens

  Eine Sammlung von Tugenden und moralischen Grundsätzen ist nicht neu, neu ist ihre Begründung aus einem ontologisierten Gewissen und ihre Charakterisierung als Werte. Diese ontologische Absicherung und sprachliche Überhöhung moralischer Begriffe als „Werte“ deutet auf die prekäre soziale Rolle der Moral in der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert hin. Dies wird deutlich, wenn man diese Tugenden mit der sozialen Realität konfrontiert. Nun ist Moral nicht durch ihr entgegenstehende Wirklichkeit zu kritisieren, da sie geradezu erfunden wurde, um schädigendes Verhalten gegenüber anderen Menschen abzustellen. Wenn allerdings die Moral der Struktur der Gesellschaft völlig widerspricht, ihre Verwirklichung wegen der gesellschaftlichen Bedingungen unmöglich ist, dann muss sie entweder Grund für die Kritik der Gesellschaft werden, um diese zu verändern,  oder sie wird zum schönen Schein, der die schlechten Verhältnisse verklärt und dadurch faktisch ein Leben nach der Moral verhindert, soweit dies Moralphilosophie überhaupt kann. Das letztere werde ich bei Lotze nachweisen.

 Zunächst einmal sind die Werte „Ordnung“, „Reinlichkeit“ und vor allem das Recht („als negative Vergeltung“) funktional in der sich entwickelnden kapitalistischen Gesellschaft, auch wenn es wichtigere gibt. Sind allerdings die Eigentumsverhältnisse und damit die Herrschaft der Kapitaleigner in Gefahr, dann wird regelmäßig das Recht von den Herrschenden gebrochen. So sagt Marx z.B. über das Menschenrecht der Freiheit etwa zur gleichen Zeit, als zum ersten Mal Lotzes Grundzüge als Vorlesung gehalten wurden: “Das Menschenrecht der Freiheit hört auf, ein Recht zu sein, sobald es mit dem politischen Leben in Konflikt tritt, während der Theorie nach das politische Leben nur die Garantie der Menschenrechte, der Rechte des individuellen Menschen ist (...)“ (Marx: Judenfrage, S. 367). Die in der bürgerlichen Gesellschaft angelegten Kriege sind das Gegenteil von Ordnung und Reinlichkeit. Aber immerhin trifft Lotze mit diesen moralischen Grundsätzen, die sein Gewissen ihm als Wert vorgibt, die Struktur seiner Gesellschaft, wenn es auch nicht die zentralen „ideellen Existenzbedingungen der herrschenden Klasse“ (Marx: Ideologie, S. 405) sind.

 Dankbarkeit ist mehr eine private Tugend, deren Verfall aber in der großen bürgerlichen Romanliteratur beklagt wird (vgl. z.B. Balzac: Vater Guriot). Dass wir ein „wirkliches Gefühl der Billigung und Mißbilligung zum Entscheidungsgrund“ unserer Werte machen sollen, ist einmal ein Aufruf zur Bildung, die jede Moral enthalten muss, andererseits ist damit die Anerkennung seiner Wertlehre gemeint, die wie gezeigt falsches Denken ist. Dass wir uns zur „Persönlichkeit“ (nicht zur Person!) entwickeln sollen, enthält schon sprachlich die aufgeblähte Nominalisierung. Tatsache ist, dass im bürgerlichen Verkehr die Waren sich nicht von selbst zum Markt tragen und deshalb von Personen (rechtsfähige Menschen) bewegt werden müssen. Diese Personen sind aber nicht frei, sondern unterstehen der von ihnen selbst in Gang gehaltenen Entfremdung. Marx schreibt über den Warenverkehr: Den Produzenten „erscheinen (...) die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das was sie sind, d.h. nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse von Personen, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.“ (Marx: Kapital, S. 87)  Wenn die Menschen aber von ihren eigenen Produkten beherrscht werden, dann ist jede „Persönlichkeit“ in diesem System etwas fantastisches, bloß scheinbares. Was heute und schon zu Lotzes Zeit als große Persönlichkeit auftritt, ist meist eine Maske, die im Konkurrenzkampf um Arbeitsplätze, Aufstiegschancen und Karriere ihre Marktchance zu verbessern sucht. Wahre Persönlichkeit, die dem Bildungsideal Lotzes gerecht würde, kann sich nur entwickeln in Opposition zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung – eine solche Persönlichkeit ist dann allerdings nicht anerkannt. Ähnliches gilt auch für die Sollensforderung, die Individualität und die Eigentümlichkeit der Person zu entwickeln und entsprechend zu wirken. Zwar wurde z.B. die Schulbildung seit dem 18. Jahrhundert ständig ausgeweitet, so dass individuelle Begabungen auch gefördert wurden, aber nur insofern sie den Bedürfnissen von Staat und Industrie entsprachen. Die treibhausmäßige Spezialbildung auf der einen Seite entspricht der Verdummung auf der anderen Seite. Marx schreibt über die Rolle der Bildung im 19. Jahrhundert: „innerhalb des kapitalistischen Systems vollziehn sich alle Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktivität der Arbeit auf Kosten des individuellen Arbeiters; alle Mittel zu Entwicklung der Produktion schlagen um in Beherrschungs- und Exploitationsmittel des Produzenten, verstümmeln den Arbeiter in einen Teilmenschen, entwürdigen ihren Inhalt, entfremden ihm die geistigen Potenzen des Arbeitsprozesse im selben Maße, worin letzterem die Wissenschaft als selbständige Potenz einverleibt wird“. (Marx: Kapital, S. 674)  Da Lotze um die Nöte des Proletariats weiß (vgl. Ethik, S. 60), ist gerade diese Forderung nach Bildung wiederum Ausdruck seines elitären Hochmuts, weil er diese Bildung auf eine Elite beschränkt denkt. Die Individualität des Menschen kann sich auf Grund der Fülle der Waren, die immer neue Genüsse und immer neue Seiten der menschlichen Bedürfnisse entdecken, bestenfalls im Privaten herausbilden, wenn man das Geld zu ihrer Befriedigung besitzt. Auch hier zeigt sich wieder die Unmöglichkeit einer allgemeinen Moral auf dem Boden einer entfremdeten Klassengesellschaft.

 Mit der „allgemeinen Pietät“ spricht Lotze heute vor allem die Umweltschützer an, wenn er schreibt: „Hierüber sagt nun das Gewissen: ‚es ist unlöblich, irgend einen Gegenstand so als vogelfrei zu betrachten, daß man mit ihm, ohne sich durch Gründe zu rechtfertigen, machen könnte, was man wollte; alles vielmehr, was einmal ist und seine besondere Natur für sich hat, ist in dieser zu schonen und nicht grundlos zu ändern.’“  „Jede mutwillige Störung eines Naturproduktes oder einer Naturschönheit unterliegt dem Tadel der Impietät.“ (Lotze: Ethik, S. 16)  Dieser schönen Forderung steht die tatsächliche Tendenz der wirtschaftlichen Bedingungen entgegen: „(...) jeder Fortschritt in der Steigerung seiner Fruchtbarkeit (des Bodens, B.G.) für eine gegebene Zeitfrist zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit. (...) Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ (Marx: Kapital, S. 529 f.)  Dass die Naturzerstörung, auf die Lotze hier anspielt, überhaupt ein Problem der Industrialisierung wird, ist einem Wirtschaftssystem geschuldet, das Lotze nicht kritisieren will, sondern verteidigt. Dieser Widerspruch macht aus Lotzes Forderung einer Pietät auch der Natur gegenüber ein geheucheltes Gewissen, das die zerstörerische Praxis begleitet.

 Bei der Konkurrenz um die Dinge soll nach Lotze die Selbstbeschränkung gelten. „Kommen zwei Personen mit ihren Ansprüchen an dasselbe Objekt in Konflikt, so mißfällt das Beharren in dem unausgeglichenen Streit, und es gefällt die Selbstbeschränkung beider, durch welche ihre Ansprüche verträglich werden.“ (Lotze: Ethik, S. 16)  Mit diesem Wert der Selbstbeschränkung erweist sich Lotze als Idylliker vorkapitalistischer Verhältnisse, um nicht zu sagen, dass er zu seiner Zeit reaktionär ist – ein typisches Produkt der Zurückgebliebenheit Deutschlands. Während Adam Smith die Konkurrenz feiert als Motor des ökonomischen Fortschritts, die Liberalen in der Konkurrenz eine Bedingung der Freiheit behaupten (vgl. Marx: Grundrisse, S. 551), will Lotze sie durch moralische Appelle einschränken und bändigen. Auf der Basis der kapitalistischen Produktionsweise bedeutet dieser Appell, abgesehen davon, sich an das Recht zu halten, das die Konkurrenz regelt, eine Aufforderung zurück in feudale Verhältnisse zu schreiten. Zumindest ist dies historisch eine illusorische Tugend.

 Der oberste Wert soll das „Wohlwollen“ sein. Ich soll meinen Mitmenschen ihr Wohl fördern. In anderem Zusammenhang wurde diese Tugend „Brüderlichkeit“ oder „Solidarität“ genannt. Nun hat sich die Brüderlichkeit, eine Losung der Französischen Revolution, nach dieser Revolution als  haltlose Illusion erwiesen. Die sozialen und ökonomischen Verhältnisse, die von dieser Revolution befreit wurden, waren, und sind es bis heute, geprägt durch Konkurrenz, Elend und Depravation des moralischen Charakters. Andererseits war die Solidarität innerhalb der Interessengruppe der Lohnabhängigen das einzig Mittel, deren Elend wirksam zu lindern. Dies ist bei Lotze aber nicht gemeint, denn er spricht mit seinen Werten das allgemein Menschliche an. Eine Solidarität aber zwischen Lohnabhängigen und Kapitaleignern wirkt sich tödlich für die ersteren aus, vor allem wenn sie für die Interessen des Kapitals in den Krieg ziehen. Die partikulare Solidarität der Lohnabhängigen im Klassenkampf will aber Lotze nicht, schon gar nicht die Zielsetzung, durch Solidarität eine sozialistische Gesellschaftsordnung zu erkämpfen. Nachdem er gefordert hat, dass die Nöte des Proletariats nur individuell durch das Wohlwollen großer (Unternehmer-)Persönlichkeiten beseitigt werden können, schreibt er: „daß eigentlich die sozialistischen Theorien auf dieselbe Aufforderung zurückkommen; denn es giebt keine von ihnen, welche nicht die früheren Zeiten der Gesellschaft als Formen des Egoismus verdammte und verspräche, daß mit ihrer Annahme das Reich der Brüderlichkeit beginnen werde. Wäre diese Voraussetzung einmal eingetroffen, so würde es der gewaltsamen Umkehrung der bisherigen Gesellschaftsverhältnisse überhaupt nicht mehr bedürfen.“ (Lotze: Ethik, S. 64) 

 Wenn alle Menschen seinen Wert „Wohlwollen“ annähmen, dann gäbe es in der Konkurrenzgesellschaft keine Konkurrenz und kein Elend mehr. Das ist von aller ökonomischen und sozialen Analyse abstrahierendes Moralisieren. Dann setzt er diese bloß ausgedachte Möglichkeit als Wirklichkeit und behauptet, also brauche man keinen Sozialismus. Wenn alle friedlich wie die Tauben wären, dann lebten wir im Paradies, also leben wir im Paradies. Abgesehen davon, dass Lotze hier einen unveränderlichen Begriff vom Menschen unterstellt entsprechend seiner Ontologie (im Gegensatz etwa zu Kant), geht Lotze überhaupt nicht auf die unterschiedlichen Bedingungen ein, die in einer sozialistischen Gesellschaft im Gegensatz zum Kapitalismus beständen, in der die Konkurrenz als vorherrschendes Prinzip abgeschafft und die sozialen Bedingungen auf der Basis des möglichen Wohlstandes für alle angeglichen sind. Lotze erweist sich in dieser verkürzten Interpretation sozialistischer Gedanken, indem er dennoch apodiktisch über diese urteilt, als würdiger Ideologe von Bismarcks Sozialistengesetz, das er in seinem letzten Lebensjahrzehnt noch genießen konnte. (Eine heutige Gestalt dieser auf individuelle Hilfe verkürzte Lösung sozialer Fragen ist der Kommunitarismus!)

 Was Lotze einer radikalen Lösung der sozialen Probleme entgegen setzt, ist die individuelle Hilfe für die Armen. Er unterschlägt in diesem für die deutschen Zustände typischen autoritären Gestus, dass die bestehenden Gesellschaftsverhältnisse eine allgemeine Geltung der Solidarität gar nicht zulassen – es sei denn sie wird von unten erkämpft oder von oben, d.h. vom Staat, aus politischen Interessen gewährt. Doch wenn z.B. Bismarck der Peitsche „Sozialistengesetz“ das Zuckerbrot „Sozialgesetze“ hinzufügt, das es gar nicht gäbe, hätten die Arbeiter nicht mittels Solidarität Druck von unten ausgeübt, dann sind dies keine moralischen Beweggründe bei den Herrschenden. Im Kapitalismus kann es keine gesamtgesellschaftliche Solidarität geben, sie wird beständig durch die Konkurrenz zerstört. Momentane gesamtgesellschaftlichen Solidarität ist meist verordnet, sie dient fast immer unsittlichen Zwecken wie etwa die Zustimmung und Unterstützung für den Weltkrieg 1914 bis 1918. (Vgl. zur Solidarität auch Gaßmann: Widerstand, S. 122-128)

 Allgemein gilt, Solidarität bzw. Wohlwollen ist tatsächlich ein entscheidender Begriff der Ethik. Eine mögliche zukünftige Gesellschaft wird auf ihn beruhen. Aber in Lotzes Ethik wird der „Wert“ Wohlwollen zum Alibi für die soziale Not, deren Abschaffung an der Wurzel der Gesellschaft verhindert werden soll durch Herumdoktern an den Symptomen.

 Zusammenfassend kann man sagen, dass Lotzes ethische Bestimmungen, soweit sie funktional für das Bestehen der kapitalistischen Gesellschaft sind, zu den ideellen Existenzbedingungen der herrschenden Klasse gehören und an deren Widersprüchen partizipieren. So weit sie illusorisch sind auf dem Boden dieser Produktionsweise, liefern sie den schönen Schein oder bestätigen das gute Gewissen dieser Ordnung, bedienen also ein ideologisches Bedürfnis und sind insofern auch funktional als notwendig falsches Bewusstsein. Das Fazit von Vorländer: „für soziale Fragen hat er wenig Interesse besessen“, beschönigt eher Lotzes Denken (Geschichte, S. 408). Bezogen auf die kapitalistische Entwicklung Westeuropas und auch schon des Kaiserreiches ist seine Ethik reaktionär.

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Stand: 31. Mai 2005